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Unser Planet wird zunehmend urbanisiert. Wöchentlich ziehen 1,2 Millionen Menschen vom Land in die Stadt. Das sind fünf Millionen Menschen im Monat und 60 Millionen im Jahr. Um 1950 lebten 750 Millionen Menschen in Städten. Heute sind es fast vier Milliarden, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. In den Entwicklungsländern wachsen die Städte am schnellsten. Mumbai in Indien hat jedes Jahr ca. 60.000 neue Bewohner mehr. Dhaka in Bangladesch wächst jährlich um mehr als 400.000 Menschen. Lagos in Nigeria hatte 1950 nur 300.000 Einwohner. Heute leben hier 21 Millionen Menschen. Lagos ist die größte Stadt Afrikas.
Wie können wir die zunehmende Urbanisierung bewerten? In der Tradition der Romantik wurden große, dichtbesiedelte Städte für die dort lebenden Menschen als abgründig dargestellt. Zum Teil lässt sich diese Tradition bereits auf biblische Geschichten zurückführen, wie die Erzählungen vom Hochmut beim Turmbau zu Babel oder von der Verdorbenheit der Städte Sodom und Gomorrha. Später beschrieb der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau (1712-1778) den Abscheu, den er für Städte empfand. Für Rousseau waren Stadtbewohner gierige, oberflächliche und vulgäre Menschen, die das Verständnis für natürliche Verhältnisse, in denen Menschen leben sollten, verloren hatten. „Städte sind der Abgrund der menschlichen Spezies’, meinte Rousseau. Er empfahl Stadtbewohnern, die Städte zu verlassen und wieder auf dem Lande zu leben.
Heute folgt ein großer Teil der Umweltbewegung den romantischen Idealen von damals. In seinem berühmten Buch ‘Planet of Slums’ (2006) hält der ‘marxistische Umweltaktivist’ Mike Davis die modernen Großstädte mit ihrer hohen Konzentration an Armen biologisch und ökologisch für unhaltbar. Davon seien nicht nur die Armen, sondern zunehmend auch die Reichen betroffen. „Mega-Slums sind beispiellose Brutstätten für unbekannte und bekannte Krankheiten, die jetzt mit der Geschwindigkeit eines Passagier-flugzeugs durch die Welt reisen.’ Alte und neue Romantiker wie Rousseau und Davis plädieren für eine Aufwertung der Landschaft, für einen ökologischen Lebensstil und für eine stärkere Verbindung zur Natur. Entscheidungsträger und NGOs, die heute in dieser Tradition denken, versuchen zu verhindern, dass Bauern in die Städte umziehen und ihre ländliche Existenz aufgeben. Einige befürworten sogar „Slum Clearance’, was in der Regel bedeutet, dass Bulldozer die Siedlungen der Armen vernichten und ihre Bewohner in Verzweiflung zurücklassen.
Dieser Web-Dokumentarfilm steht in der Tradition der Aufklärung. Auch diese Tradition lässt sich zum Teil auf die Geschichte zurückführen. Zum Beispiel auf die des klassischen Alter-tums mit ihrer „Polis’, dem Stadtstaat, in dem neue Ideen entwickelt und praktiziert wurden. Nur in der griechischen Polis, so dachten die Griechen, war es möglich, Bürger zu sein. Das heißt, meinte Aristoteles, dass man vollständig teilhat an der Rechtsprechung und der Verwaltung der Stadt. Nicht auf dem Lande, geschweige denn in der Wildnis können Menschen existieren; sehr wohl aber in den Werkstätten, Schulen und Kaffeehäusern der Städte, wo Menschen sich kennen lernen. Voltaire (1694-1778) lobte die Londoner Börse, weil dies der einzige Ort war, an dem Christ, Jude und Mohammedaner sich ungeachtet ihrer religiösen Herkunft treffen konnten. Hier hatten sie die Möglichkeit, geschäftliche Beziehungen zu pflegen.
Diese Strömung wird heute stark vertreten durch dem liberalen Ökonomen Ed Glaeser (1967). In seinem Buch The Triumph of the City(2011), befürwortet er die Bedeutung der modernen Großstadt einschließlich ihrer Slums. Für aufgeklärte Denker kommen Menschen nirgendwo mehr zu ihrem Recht als in der Stadt. Glaeser weist darauf hin, dass die Stadt das Beste im Menschen hervorhebt. „Städte machen uns menschlich. Städte fordern die Zusammenarbeit des Menschen’, schreibt Glaeser. „Hier blüht die Menschlichkeit am deutlichsten auf.’
Auch eine neue Strömung innerhalb der Umweltbewegung, der sogenannte „Öko-Modernismus’, verteidigt das Stadtleben. „Städte gehen viel effizienter mit Rohstoffen um und verringern den Druck auf die Umwelt ‘meinen Öko-Modernisten‘. Stadtbewohner brauchen viel weniger Platz als Bewohner des ländlichen Raums. Auch verbrauchen sie viel weniger Energie, fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln und gehen öfter zu Fuß. Wichtiger aber ist: Menschen in Städten genießen in der Regel mehr Wohlstand. Außerdem sind sie gesünder, klüger und glücklicher als Bewohner des ländlichen Raums. Darüber hinaus werden Stadtbewohner älter als Dorfbewohner. Dies gilt ebenso für Menschen in Slums.
Bilder
© Ralf Bodelier, December, London, 2011
© Still from ‘koyaanisqatsi, life out of balance’, 1982