[Zum webdokumentarfilm www.Ndirande.com]
In Malawi weiß niemand genau, wie groß Ndirande wirklich ist. Die Stadt hat sicherlich mehr als 200.000 Einwohner. Von Ndirande aus sind es drei Kilometer bis zum Stadtzentrum von Blantyre, der zweitgrößten Stadt Malawis. Das Slumgebiet windet sich an den untersten Hängen des 1800m hohen Mount Ndirande entlang. Auf halber Höhe liegt die Ndirande Ring Road, das Handels- und Fabrikzentrum von Ndirande. Auf beiden Seiten der Ring Road haben sich Holzhändler, Kleinbus-Werkstätten, Bars, Imbiss-Buden, Einbruchsgitter-, Kochtopf- und
Polstermöbelmanufakturen niedergelassen. Bis zur Ndirande Ring Road ist die Stadt noch übersichtlich. Begibt man sich aber von der Ringstraße aus weiter nach Ndirande hinein, verliert man sich unwiderruflich in einem Gewirr von Straßen und Gassen, manche nicht breiter als eines der vielen Rinnsale, die in der Regenzeit vom Wasser durchspült werden.
Auf halber Strecke der Ringstraße liegt ein riesiger Markt. Hier verdienen schätzungsweise 30.000 Menschen ihren Lebensunterhalt. Hier kann man praktisch alles kaufen, von Särgen bis zur Second-Hand-Kleidung; von Gemüse und preiswertem Sex bis hin zu lebenden Hüh-nern und gebratenem Fisch; von Autos und Autoersatzteilen bis zu handgefertigten Polster-möbeln. Quer durch Ndirande verläuft der Nasolo Fluss. Während der Trockenzeit ist er ein sanft mä-andernder Bach, in dem Kinder spielen und Frauen Kleider waschen. Wo Ratten leben und Mücken sich fortpflanzen, die Malaria erregen. In der Regenzeit verändert sich der Nasolo in eine wirbelnde zerstörerische Flut, die alles mit sich reißt, Menschen und Tiere, Brücken und Häuser. Dass der Nasolo so gefährlich werden kann, ist die Folge der fast vollständigen Ab-holzung des Mount Ndirande. Um an Brennholz zu kommen, haben die Bewohner von Ndirande den mächtigen Wald, der den Berg einst umgab, gerodet.
Die offizielle Arbeitslosenquote in Ndirande liegt bei über 90 Prozent. Das heißt aber nicht, dass in den Slums nicht hart gearbeitet würde. Die meiste Arbeit, die hier verrichtet wird, wird nur nirgendwo dokumentiert. Daher gibt es selbstverständlich auch wenige Steuerzah-ler. Die meisten arbeiten außerhalb der Slums. Morgens schwärmen eine große Menge Männer und Frauen zu Fuß und in Minibussen aus, in Richtung der wohlhabenderen Stadt-teile. In den Häusern der Reichen arbeiten sie als Gartenpfleger, Safe Guards, Köche, Home Boys oder Kindermädchen. Auch Kfz-Mechaniker, Tischler, Klempner und Elektriker mit eige-nem Werkzeug unter dem Arm verlassen Ndirande, um der wohlhabenden Oberschicht von Blantyre ihre Dienste anzubieten.
Das so verdiente Geld wird in erster Linie wieder ausgegeben für Essen, Kleidung, Schulgeld und Fahrtkosten. So nach und nach versucht man, die Wohnung zu renovieren oder zu ver-größern. Sonntags spendet man einen Teil davon den zahlreichen Kirchen von Ndirande. Was übrigbleibt, lässt man sonntags abends in den Lokalen des Unterhaltungsviertels Chinseu. Am Montagmorgen schwärmt man dann wieder aus in die wohlhabenden Viertel.
Wer Ndirande zum ersten Mal besucht, nimmt vor allem die armseligen Seiten des Viertels wahr. Die Trauerzüge, Särge und Kranken, manche ausgemergelt auf einer Matte vor ihrer Tür. Man sieht Kinder mit zerrissenen Kleidern, Stacheldraht über den Mauern, Gitter vor den Geschäften und behinderte Menschen, die durch den Staub kriechen. In unserem Web-Dokumentarfilm möchten wir zeigen, wie wir die Stadt sahen, nachdem wir sie immer häufiger besucht hatten. Die Einwohner von Ndirande sind Menschen, mit denen man sich anfreunden kann, denen man zustimmt oder mit denen man streitet. Sie sind Men-schen, die wie alle anderen versuchen, das Beste aus ihrem Leben zu machen.
Bilder
© Ralf Bodelier, Overview Ndirande, Malawi. 2008
© Photograper unknown. Coffin Makers, Ndirande Malawi. 2015