[Zum webdokumentarfilm www.Ndirande.com]
Die meisten Reiseführer warnen vor den Slums. Die Gefahr, in einem Slum belästigt und bestohlen zu werden oder schlimmer, ist bedeutend größer als in einem Dorf oder im Zentrum der Stadt. Die Warnungen der Reiseführer sind daher berechtigt. Die menschliche Energie, die durch einen Slum fließt, macht ihn dynamisch und gefährlich zugleich. Junge, arme und unternehmungslustige Menschen gehen eher über physische und moralische Grenzen als ältere, reiche und besonnene Menschen.
Verschiedene Slums sollte man einfach meiden. Das Elendsviertel Cité Soleil in Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, gilt als besonders gefährlich. Auch Sadr City, ein Stadtteil von Bagdad im Irak und die Slums von Kinshasa im Kongo: sie alle sind keine Orte unbe-schwerten Urlaubs.
Dennoch kann man die meisten Slums besuchen, ohne sich in Gefahr zu bringen. Durch Dharavi in Mumbai kann man problemlos schlendern. Obwohl Tondo in der philippinischen Hauptstadt Manila gebeutelt wird durch Drogenmorde, könnte man da tagelang abhängen, ohne dass es langweilig wird. Nicht anders ist es im Mbare-Viertel in Harare, Simbabwe, oder in den Slums rund um den gigantischen Mercatomarkt von Addis Abeba in Äthiopien. In zunehmendem Maße gilt das auch für die meisten Favelas in Lateinamerika.
Wie sicher auch immer, es bleibt als Tourist ratsam, die Slums nur bei Tageslicht zu besuchen und keine teuren Kameras und keine überfüllten Rucksäcke mit sich herum zu schleppen. Es ist bestimmt ebenso klug wie interessant, die Gegend mit Einheimischen zu erkunden. Wer sich in seinem Hotel oder Gasthaus erkundigt, wird erfahren, dass dort immer jemand arbeitet, der im Slum um die Ecke aufgewachsen ist. Ein Eingeborener stellt den Besucher anderen Bewohnern der Slums vor, nimmt ihn mit zu verborgenen Gassen, Tempeln oder Betrieben, und nimmt ihn in Schutz, sollte er dennoch belästigt werden.
Slums besucht man am besten zu Fuß. Hinter den getönten und geschlossenen Scheiben eines PKW fühlt man sich vielleicht sicherer, ist dafür aber auch ausgeschlossen vom prallen Leben. Zu Fuß durch den Slum muss man sich auf seinen Orientierungssinn verlassen. Es gibt kaum Kartenmaterial. Selbst mit „Google Maps’ auf dem Handy ist es schwer, den Weg zu finden. Nicht nur der Verlauf der Straßen und Gassen ändert sich manchmal plötzlich, oft führt der Weg auch unter Dächern hindurch, oder die Durchgänge sind so schmal, dass sie als Wanderwege kaum erkennbar sind.
Die goldene Regel für jeden, der einen Slum besucht, ist Respekt vor der Privatsphäre der Einwohner. Wenn eine fünfköpfige Familie in einem Einzimmerhaus die Tür weit offen ste-hen lässt, um frische Luft zu bekommen, empfindet sie es in der Regel nicht als angenehm, wenn Fremde stehenbleiben und minutenlang hineinstarren. Und wer vor seinem Haus kocht, sich wäscht oder an einer religiösen Feier teilnimmt, ist meistens nicht begeistert, wenn er dabei fotografiert wird.
Eine der besten Möglichkeiten, Kontakt zu Slumbewohnern zu bekommen, ist, im Slum zu übernachten und an ihrer täglichen Routine teilzuhaben. Auch hier gibt es Pensionen, auch hier isst man in Gaststätten und auch hier trifft man sich auf ein Bier in der Kneipe. Überall kann man ins Gespräch kommen: überall gibt es Märkte und Geschäfte, in denen man ein-kaufen kann. Freitags kann man in der Moschee mitbeten, sonntags in einer der vielen Kir-chen. Genau wie wir machen auch Slumbewohner nur das Beste aus ihrem Leben.
Bilder
© Photograper unknown. Tourism, Ndirande, Malawi. 2015
© Photograper unknown. Wedding, Maginjiri, Malawi. 2015